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Angie und Al

Als sie die schwere Holztür öffnete und hineinging, sah sie wieder die traurigen Gesichter. Für einen Augenblick wandten sie sich ihr zu. Doch inzwischen hatte jeder hier kapiert, dass billige Anmache bei ihr nicht ankam und sie richteten ihre Blicke gleich wieder auf die hübsche Wirtin. Die zapfte, holte Zitronenscheiben aus dem Kühlschrank und stellte ihnen die Drinks auf die Theke.
„Wein?“, fragte sie.
Alina nickte kurz. Sie dachte an ihren Mann. Er konnte jetzt gemütlich auf dem Sofa liegen und fernsehen, inzwischen mit einer neuen Frau an seiner Seite. Aber wollte sie das noch? Nein, die dörfliche Idylle vermisste sie nicht. Sie war stolz auf ihre erste eigene Wohnung. Dafür nahm sie in Kauf, dass ihr abends schon mal die Decke auf den Kopf fiel. Eine Eckkneipe war doch entschieden die bessere Lösung als das Sofa.
Sie schaute in die Runde. Da stand einer dabei, den sie dort noch nie gesehen hatte. Er hatte weiche Gesichtszüge und trug ein rotes Seidenhemd, darüber ein buntes Tuch. Ein bisschen Paradiesvogel. Auch er hatte sehnsüchtige Augen, aber irgendwie lebendiger. Alina musste immerzu hinschauen. Als ihr Wein kam, prostete er ihr zu.
„Was ist normal?“ Eine Welle von Sympathie flog zu ihr herüber, als er sie ansprach und dann stand er auch schon neben ihr.
„Ich frage mich oft, wie es kommt, dass einige Leute glauben, nur sie seien normal und andere verrückt.“
„Spießer“, sagte Alina.
„Die meinen, alle müssten so leben wie sie.“
„Bis vor kurzem wohnte ich in einem Dorf. Dort könnten sie mit diesem roten Hemd nicht durch die Gasse laufen.“
„Stadtluft macht frei...“
„...sagte man schon im Mittelalter.“
Sie stießen miteinander an.
„Alina.“
„Angelo.“
Seine blauen Augen strahlten. War das jetzt Einbildung oder fühlte sie ein leichtes Kribbeln im Bauch?
„Wahrscheinlich fänden deine Dorfleute es auch nicht normal, dass eine Frau spätabends alleine in der Kneipe steht und einem fremden Mann Rotwein bestellt.“
„Stimmt“, überlegte Alina, „nur an Fastnacht, da ist das anders.“
„Was ist denn an Fastnacht Besonderes in deinem Dorf?“
„Du müsstest mal erleben, wenn da Maskenball ist.“
,,Das wäre doch mal was. Maskenball. Kommt man da wirklich maskiert?“
„Früher war das so“, erzählte sie weiter, „aber inzwischen kommen nur noch wenige maskiert.“
„Immerhin. Und dieses Jahr war er schon, der Maskenball?“
„Nein, er ist am kommenden Samstag in der Turnhalle.“
„Und ich wette, du gehst da hin.“
Beim Sprechen war er immer näher zu ihr hingerückt. Das war ihr nicht unangenehm.

An diesem Abend redeten Alina und Angelo noch lange miteinander. Sie erzählte von ihrer Arbeit in der Grundschule, er sprach über die Sportredaktion bei seiner Lokalzeitung. Sein Lieblingsthema aber waren Boutiquen für seidene Unterwäsche und edle Kleidung. Da kannte er sich überraschend gut aus. Alina fand das prickelnd.

Auf einem spärlich beleuchteten Parkplatz stellte sie das Auto ab. Hier wollte sie auf keinen Fall erkannt werden. Sie schaute in den Spiegel und rückte die rote Krawatte auf dem schwarzen Hemd noch einmal zurecht. Der Nadelstreifenanzug saß gut. Ihre langen Haare hatte sie zusammengesteckt und unter dem Hut verschwinden lassen. Sie zog ihn bis über die Augen.
Ihr Herz hämmerte, als sie dem Eingang näher kam. Da saß Otto vom Turnverein und verkaufte ihr die Eintrittskarte. Er erkannte sie nicht, das war schon mal beruhigend. Gemächlich begab sie sich in das närrische Treiben. Erstaunlich, wie entspannt sie sich als Mann auf dieser Veranstaltung bewegen konnte. Sie entdeckte bekannte Gesichter. Cleopatras, Spinnenweiber und Cocktail Bunnies am Tisch der Landfrauen. Daneben die Hexen und Mönche vom Gesangverein, maskiert wie jedes Jahr. In aller Ruhe schaute sie sich weiter um.
Ein mit Pailletten verziertes Dekolletee fiel ihr in die Augen. Es gehörte zu einer schwarzen Grazie, die lässig an der Theke lehnte. Silberfransen an fließendem Seidenstoff machten jede Bewegung ihrer wohlgeformten Beine mit. Goldene Ohrhänger funkelten unter der dunklen Lockenpracht. Alina konnte nicht aufhören, diese rassige Schönheit anzusehen, wurde unwillkürlich in ihre Richtung gezogen.  
„Nenn mich Angie“, sagte die Lady mit ihrer tiefen Stimme und gab ihr ein Glas Sekt in die Hand.
„Ich bin Al“, prustete Alina.
Angie drückte Al einen knallroten Schmatz auf den Mund. Blaue Augen lächelten. Da war es wieder, dieses leichte Kribbeln im Bauch.
„Komm mit, Angie!“ Al zog seine Black Lady auf die Tanzfläche.
„Tanzt du den Männerschritt oder ich?“
„Du, wer sonst?“, sagte Angie.
Das war nicht so einfach. Links rechts tadam oder rechts links tadam, überlegte Al, aber Angie kam ihm schon zuvor.
„Der Herr beginnt mit links.“
Gekonnt hielt er seine Dame in der Tanzhaltung und schob sie über die Fläche. Angie beugte den Oberkörper weit zurück und legte den Kopf in den Nacken. Die Rechtsdrehung, die Linksdrehung, auseinander und wieder zusammen. Sie tanzten, als hätten sie das einstudiert. Selbst der Tango gelang. Al zählte leise mit: eins ... zwei ... drei vier fünf ... sechs sieben acht und eins ... Er brauchte nur leicht die Finger bewegen, schon wusste Angie, was sie zu tun hatte. Beim Walzer wirbelten sie in großen Kreisen an den Tischen vorbei. ‚Alles normal, ihr Spießer’, dachte Al und registrierte gelassen die vielen Augenpaare, die auf sie gerichtet waren.
Als bei Angie das Make-up zu zerfließen begann und der Bartschatten leicht sichtbar wurde, verloren sie nicht viele Worte. Hand in Hand gingen sie zu Als Auto.
‚Ciao, ihr Spießer!’, dachte Angie. Mit dem Fahrstuhl fuhren sie in den vierten Stock. ‚So ein Appartement in der Stadt hat doch was.’

©Renate Hupfeld

 

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