Startseite - Homepage von Renate Hupfeld

 

 

Neues Projekt

Hat mich jemals etwas so durcheinander gebracht wie die Botschaft, dass du da bist? Zum ersten Mal in meinem Leben bin ich ratlos, vierzig Jahre alt und ratlos. Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll.
Du oder er? Eine Frage, auf die ich gut verzichten könnte, die vielleicht völlig abwegig ist und  längst beantwortet wäre für mich, sollte sie sich denn stellen. Und dennoch fühle ich mich jetzt in der Situation, dass ich mich das fragen muss, ohne es zu wollen, ohne es jetzt zu wollen, schicksalhaft mit dem Dilemma konfrontiert.
Du oder er?
Es war ein ausgesprochener Glückstag, als ich ihm begegnete, ein unerwarteter Lichtblick, nachdem das Thema ‚Männer’ für mich längst abgehakt war. Männer! Ich war nämlich davon überzeugt, sie nützten nicht, sondern schadeten mir nur. Kurz gesagt, ich brauchte sie nicht und war überzeugt, es käme keiner mehr an mich heran. Das klingt hart, doch nach meinen Erfahrungen musste ich das so sehen. Männer in meiner Nähe bedeuteten jedes Mal eine Katastrophe. Misstrauen, Kampf, Verletzungen. Immer das gleiche Theater, wie verhext.
Macht gar nichts, wenn du das noch nicht verstehst. Wie solltest du auch?
Jedenfalls hatte ich irgendwann mein Motto klar: ‚Keine Männer, keine Tränen’.
Und dann kam er, wie ein Geschenk des Zufalls, und mit ihm die Erleuchtung, dass ich mich wohl geirrt hatte. Es gab Ausnahmen, zumindest diese eine, das musste ich mir eingestehen. Denn mit ihm erfuhr ich, dass es auch anders ging, mit Vertrauen und Liebe. Und, wie gesagt, dieses Glück kam völlig überraschend. Plötzlich stand er mir gegenüber und fragte: „Was machen wir jetzt?“
Jetzt, das war der Moment, an dem die meisten aus unserem kleinen Grüppchen ihre Skier auf die Autos gepackt hatten und abgereist waren, zu ihren Klausuren, an ihren Schreibtisch im Büro oder zu ihrer Arbeit in Haus und Küche. Alle waren unterwegs nach Hause, außer uns zweien. Wir waren übrig geblieben und standen nun auf unseren Brettern am Platz neben dem Ausstieg, wo wir uns tags zuvor noch mit den anderen versammelt hatten, bevor es auf die Piste ging. Jetzt nur wir zwei. Er und ich. Wir hatten noch einen Tag Zeit, einen ganzen Tag. ‚Was machen wir jetzt?’ Was für eine Frage! Wir waren doch schon oben angekommen, an der höchsten Stelle, von der wir die beste Aussicht über das ganze Winterland hatten. So bizarr die Farben und Formen, so schroff und so sanft. In der einen Richtung der felsige Lange, daneben der etwas kleinere Bruder und zwischen den beiden eine Scharte, die Jahr für Jahr einigen waghalsigen Skifreaks zum Verhängnis wurde, und zur anderen Seite hin der Blick auf die schneebedeckte Passstraße mit dem gemütlich rauchenden Schornstein auf dem Rasthaus, an dem hin und wieder ein Auto anhielt oder ein anderes mehr oder weniger  schleichend vorüberfuhr. Und ganz rechts der Blick hinunter über steile und sanfte Skihänge bis zum Wald und darüber hinaus auf die weißen Dächer rund um den Kirchturm des kleinen Ortes.
Wir begannen die Abfahrt, machten erste verhaltene Schwünge, immer wieder aufeinander achtend, mit fast ungläubigen Blicken nach jedem Hügel, so ungewohnt, nur wir zwei auf der Piste, auf der wir bisher immer zu mehreren gewesen waren. Der Weg führte uns in Serpentinen durch den Wald hinunter in den Ort, vorbei an der kleinen Kirche zum Einstieg etwas oberhalb, von dem uns ein Sessel auf die nächste Passhöhe brachte. Eng nebeneinander saßen wir und berührten uns zaghaft mit den Skiern, er mit dem rechten, ich mit dem linken,  hin und wieder ein Blick, als könnten wir es immer noch nicht begreifen. Oben angekommen, eine kurze Abstimmung und gleich wieder hinunter, mal er hinter mir, mal ich hinter ihm, Kurve um Kurve, Strecke für Strecke, Ort für Ort, Sessellift, Passhöhe, immer weiter, hoch und runter, durch die steinerne Stadt zu Füßen des felsigen Langen und des kleinen Bruders, vorbei an der Scharte der Waghalsigen. Wie schön das war, nur er und ich über vier Pässe und durch vier Täler, bis wir schließlich dort ankamen, wo wir einige Stunden zuvor gestartet waren.
Ich erzähle dir das, um dir klarzumachen, dass mit dir jetzt alles anders ist und damit du verstehst, was das für mich bedeutet und warum ich ihn nicht verlieren will, warum ich mich fragen muss: Du oder er? 
Am Abend dann in dem Haus oben am Berg, in dem wir tags zuvor mit so vielen am Tisch saßen, jetzt nur wir zwei. Spagetti Bolognese hatten wir in die Schüsseln gezaubert, dazu Parmiggiano. Nach dem Essen hörten wir Musik. Meine Lieblingssongs mochte er, ich seine ebenfalls. Wir lachten und tanzten, auseinander zusammen, auseinander zusammen, stundenlang. Dann holte er seine Gitarre hervor. Ein Stück gefiel mir besonders. Ich wollte es noch einmal hören. Er spielte es noch einmal. Immer wieder spielte er diese Melodie. Sie begleitete mich die ganze Nacht lang und am nächsten Morgen war sie immer noch da. Und am Tag darauf, in der nächsten Nacht, die ganze Zeit war sie bei uns. Er und ich und unsere Melodie.
Drei Monate haben wir nun schon diese ungestörte Zweisamkeit, jeden Samstag, jeden Sonntag, viele Abende und Nächte. Zusammen einkaufen, kochen, essen, Musik hören, tanzen, bummeln in Fußgängerzonen, durch Wälder und Parks, meine Hand in seiner Hand, reden über schwarze Löcher und ‚Rosen im Asphalt’.
Unser nächstes gemeinsames Projekt sollte eine Wanderung in unserem Winterparadies sein, jedoch ohne Schnee. Für diesen Sommer war es geplant und sogar schon in den Details vorbereitet. Mit Rucksack und Zelt wollten wir unterwegs sein, den schroffen Langen, seinen kleinen Bruder und die Scharte der Waghalsigen mal aus der Nähe betrachten, durch die steinerne Stadt gehen und dann weiter, Berge und Täler durchwandern, zu Fuß das Massiv umrunden. Unser Sommerprojekt nennen wir das, nannten wir das, hatten es uns so schön vorgestellt. Und nun knallst du in unser Leben, bist plötzlich da und bleibst auch da, hast dich schon eingenistet, als sei das ganz selbstverständlich. Niemals hätte ich damit gerechnet, dass du kommst. Vierzig Jahre lang hat mich nichts so aus der Bahn geworfen. Letzte Nacht konnte ich nicht schlafen, zu unruhig war ich, viel zu unruhig. Wie soll es weitergehen? Mit dir dabei ist nichts mehr wie vorher. Tag und Nacht bist du nun dabei. Nie mehr bin ich allein. Nie mehr sind wir zu zweit, er und ich. Wie wird er reagieren, wenn er es erfährt? Mein lieber Träumer. So jung und unverbraucht. Bisher hat ihm das Leben noch keine solche Verantwortung aufgebürdet. Ich kann mir auch gar nicht vorstellen, wie sich das anfühlt, wenn er plötzlich so gefordert wird wie mit dir. Er soll sich nicht verändern, soll immer der liebe Träumer bleiben. Doch ich befürchte fast, dass das nicht geht. Aus der Traum. Was wird er sagen? Über die Möglichkeit, du könntest dazukommen, haben wir nie gesprochen. Vielleicht hätten wir es noch getan. Irgendwann wäre es vielleicht ein Thema gewesen. Und nun bist du schon da. Konntest nicht mehr warten. Ich habe Angst, dass sein helles Gesicht sich verfinstert und dass jetzt alles vorbei ist.
Vorhin hat er angerufen. Er war so lieb, kommt heute schon etwas früher, hat es extra möglich gemacht, freut sich auf mich. Am Telefon konnte ich es ihm nicht sagen. Es ging einfach nicht. In seine Fröhlichkeit wollte ich nicht hineinplatzen mit dieser Botschaft. Ich weiß ja selbst erst seit gestern, dass du da bist. Was ich empfand, als ich es erfuhr? Das sollst du auf jeden Fall wissen. Mein Herz hüpfte, als wollte es aus der Brust springen. Und wenn ich in mich hineinhorche, ist es heute immer noch so. Ja, mein Bauch sagt etwas anderes als mein Kopf. Ein tolles warmes Gefühl habe ich, spüre intensiv, dass du da bist. Angenehm süß die leichte Übelkeit. Ein paar Millimeter groß bist du erst, doch dein Herz schlägt schon. Ein gerade erst begonnenes Leben, ein ganz kleines Leben, ein winziges Leben. Dein Leben. Dein Herzschlag. Was meinst du? Ich soll noch mal überlegen, warum die Frage: Du oder er? Das ist ja eine ganz neue Sichtweise. Gar kein Dilemma? Darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht. Recht hast du. Warum eigentlich diese dumme Frage? Zumal sie ja für mich ohnehin längst beantwortet wäre, sollte sie sich denn so stellen, was ja gar nicht der Fall ist. Du oder er? Was soll überhaupt das ‚oder’? Ich werde es gegen ein ‚und’ austauschen. Du und er, muss es heißen. Noch besser: Du und er und ich.
Je mehr ich nun darüber nachdenke, desto mehr gewöhne ich mich an den Gedanken. Du und er und ich. Wir sind jetzt drei. Ja, das werde ich ihm sagen. Und er muss wissen, dass jetzt alles ein bisschen anders wird, vor allem, dass ich höllisch aufpassen muss auf dich, damit dir nichts passiert. Das ist wichtiger als alles andere im Moment. Nichts werde ich tun, was dich in Gefahr bringen könnte. Deshalb werden wir das Sommerprojekt streichen müssen. Eine Wanderung in den Bergen wäre nichts für dich, viel zu gefährlich. Du musst erst noch ganz doll wachsen, bis du groß und stark genug bist für diese Welt. Im nächsten Sommer nehmen wir dich dann mit zum felsigen Langen. Der blinzelt seinem kleinen Bruder zu, ohne dass es jemand sieht, und die beiden Unentwegten amüsieren sich still. Dein Vater hat anstatt Rucksack dann dich in der Trage auf dem Rücken und zu dritt wandern wir ein kleines Stück entlang der Scharte der Waghalsigen und durch die steinerne Stadt.
Gleich wird er hereinkommen und sich auf seinen Platz im Sofa setzen. Da bleibt nur noch eine Frage: Wie sag ich es ihm? Am besten besorge ich uns erst einmal einen Pott Kaffee aus der Küche. Dann setze ich mich neben ihn und schaue ihn an. Sein helles Gesicht strahlt. ‚Was machen wir jetzt?’, fragen seine Augen. Meine Antwort kannst du dir schon vorstellen: ‚Wir haben ein winziges neues Projekt’, werde ich sagen.

 

Bild und Text:  ©Renate Hupfeld

Diese und weitere Kurzgeschichten in "Grenzorte":


Startseite - Homepage von Renate Hupfeld