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Sandmann

Renate Hupfeld

Im Watteschnee neben dem Automaten für die Parkgebühren steht Sandmann mit seiner roten Zipfelmütze. Er trägt einen Sternenschlafrock in seidigem Dunkelblau und  hat ein zauberhaftes Lächeln aufgesetzt. In der Hand hält er ein langes goldenes Fernrohr, durch das er hinauf schaut zu den Sternen, um zu prüfen, ob die Engel sie  ordentlich geputzt haben. Ja, sie funkeln prächtig, denn bald ist Weihnachten. Das Einkaufscenter hat sich wieder in ein Fantasieland verwandelt mit Märchenfiguren und leuchtenden Kugeln an Tannenbäumen in Rot und Gold.  Von der Rolltreppe aus kann Thomas das schon sehen. Die bringt ihn vom Parkdeck hinunter direkt zu Peterchen und Anneliese in ihrer Kinderstube, der Junge im blauen, die kleine Schwester im rosa Nachthemd, bereit für die abenteuerlichsten Träume. Die kommen auch sofort, denn schon ein paar Meter weiter beginnt die tollkühne Reise zum höchsten Mondberg. Auf Sandmanns Schlitten schweben die zwei Kinder über die Milchstraße.
     Diese Märchenszenen wecken Erinnerungen. Thomas denkt an die Zeit, als Sarah noch ein kleines Mädchen war und er ihr abends vor dem Schlafengehen Geschichten vorgelesen hat. Auch die von der abenteuerlichen Mondfahrt auf der Suche nach dem verlorenen Beinchen von Maikäfer Sumsemann. Traurige Gedanken sind das, denn er hat sein Kind schon seit langer Zeit nicht mehr gesehen. Auch in diesem Jahr ist er wieder auf der Suche nach einem Weihnachtsgeschenk für Sarah. Wenn er sie schon nicht sehen kann, will er ihr wenigstens etwas schenken, worüber sie sich freut. Das ist schwierig. W
ahrscheinlich wird es wieder genau so sein wie im letzten Jahr und an ihrem Geburtstag und überhaupt seit vielen Jahren. Sarah ignoriert seine Geschenke. Er muss damit rechnen, dass sie ihm auch diesmal wieder nicht antwortet. Was soll er tun? Hat er denn gar keine Chance? Denkt sie gar nicht mehr an ihren Papa? Am Ende macht sie sich noch lustig über seine vergeblichen Bemühungen. Hat er denn alles falsch gemacht? Nein, es kann nicht alles umsonst gewesen sein. Er gibt die Hoffnung nicht auf. Niemals. Sarah ist und bleibt sein Kind.
     Die drei Abenteurer haben nach einem Besuch im Schloss der Nachtfee die silberne Mondkanone erreicht. Jetzt kommt der spannende Moment. Peter hat eine schwierige Aufgabe. Er wird auf den Gipfel des höchsten Mondberges geschossen, um das Maikäferbein zu holen.  Könnte Sarah das doch hier sehen, könnten sie sich das zusammen anschauen. Wie hatte sie gebangt und gehofft, dass alles gut ging auf der gefährlichen  Reise in die unbekannte Welt und dass Peter die Rettung gelingen würde. Nie bekam sie genug von diesem aufregenden Abenteuer. Bis feiner silberner Sand aus Sandmanns Pusterohr in ihre Augen rieselte und sie in seinem Arm einschlief. Thomas wischt sich die Tränen aus dem Gesicht.
     Vor den Auslagen des Juwelierladens bleibt er kurz stehen. Sein kleines Mädchen hatte eine Vorliebe für alles, was glitzerte und glänzte, wie das Armband mit den goldenen Tierfigürchen. Und jetzt? Er weiß nicht einmal, wie Sarah  jetzt aussieht. Auf der Weihnachtswiese sind die schönsten Spielzeuge aufgebaut, Puppen, Trommeln, Autos und Bilderbücher wie  Blumen im Watteschnee. Ja, das hätte ihr gefallen. Wie einfach war es doch, als sie sich noch eine Puppe wünschte. Die mit den langen blonden Zöpfen wäre genau die  Richtige für sie gewesen. Ach, und die schönen Bilderbücher. Sie hätte „Lauras Stern" ausgesucht.
     Und wovon träumt eine Fünfzehnjährige?
     Die letzte Rettung ist mal wieder der Buchladen. Da könnte er auch diesmal etwas für seine Tochter finden. Das vielfältige Angebot an Jugendbüchern ist schon fast verwirrend. Käme vielleicht „Tintenherz“ in Frage? Oder "Der Herr der Finsternis"? Steht Sarah auf Fantasie? Alles nicht das Wahre. Er weiß ja gar nicht, ob sie diese Bücher bereits hat. Vielleicht hatte seine Tochter sogar schon einen "Höllenflirt". Doch zu dem Thema etwas Passendes zu finden, ist wohl aussichtslos. Damit könnte er nur ins Fettnäpfchen treten.
     Ein Buchcover hatte er gleich beim Reinkommen auf einem der Tische entdeckt. Es gefällt ihm von allen am besten. Eine geheimnisvolle Landschaft ist da abgebildet, schön gestaltet in warmen Grüntönen im Kontrast zum Blau von Meer und Himmel. Das Bild vermittelt ein seltsam schönes Licht, wie er es manchmal auf Fotos von Polarlichtern gesehen hat.  Und wie gut der Titel passt: „Traum im Polarnebel". Juri Rytchëu hat die Geschichte geschrieben. Ein seltsamer Name. Von dem Autor hat er noch nie gehört, „Sohn eines Jägers in der Siedlung Uelen auf der Ttuktschenhalbinsel im äußersten Nordosten Sibiriens“. Der Text wurde aus dem Russischen übersetzt. Er betrachtet das Buch von allen Seiten. Es sieht nicht nur gut aus, die Informationen zu Autor und Inhalt hören sich auch sehr viel versprechend an. Ein Mann strandet im Eismeer und wird im Hundeschlitten zu einer Schamanin gebracht. Es wird eine harte Zeit in der eisigen Tundra, die härteste, die er jemals erlebt hat. Von Rettung ist die Rede und es wird ein hoffnungsvolles Ende in Aussicht gestellt. „Aus einem Winter wird ein ganzes Leben“, heißt es im Klappentext..
     Das Buch gefällt ihm sehr. Am liebsten würde er es gar nicht mehr aus der Hand legen. Er schaut noch einmal auf das Coverbild. Es könnte auch Sarah gefallen. Die passende Weihnachtskarte wird er noch aussuchen. Eine endlos  weite Winterlandschaft stellt er sich vor, in der Ferne ein Häuschen mit rauchendem Schornstein und kleinen hell erleuchteten Fenstern. Dazu wird er ihr ein paar Zeilen schreiben, ihr erklären, warum er diese Geschichte für sie ausgesucht hat. Vielleicht so: 'Liebe Sarah, lange habe ich nach einem Geschenk für dich gesucht. Erinnerst du dich an den Sandmann und Peterchens Mondfahrt? Weißt du noch, wie wir beiden zusammen mit Peter und Anneliese auf Sandmanns Schlitten über die Milchstraße zum Mond gereist sind, um dem armen Maikäfer zu helfen? Ich habe eine Geschichte gefunden, die dich auch in eine andere Welt entführt, wo auch jemandem geholfen wird. Ich dachte, das könnte etwas für dich sein. Doch ich weiß nicht so recht, was du jetzt gerne liest. Weißt du, wenn Weihnachten naht, ist das immer so seltsam mit mir und mit dir. Weißt du? Ach, ich weiß selber nicht.' Tränen verwischen die Konturen der dunkelgrünen Hügel mit dem Blau des Polarhimmels.
     Nein, das bringt nichts.
     Er legt das Buch zurück.
     Auf dem Weg zur Rolltreppe bleibt er noch kurz bei den zwei kleinen Abenteurern stehen. Peter und seine Schwester sind nach gelungener Rettung des sechsten Maikäferbeinchens wieder daheim. Sumsemann spielt auf der Geige eine wunderschöne Melodie, begleitet von tausend und abertausend feinen Silberglöckchen.
     Während der Fahrt nach oben zum Parkdeck schwenkt er noch einmal den Blick über die üppig  glänzende Pracht in der Einkaufsmeile. Die Sterne unter der Glaskuppel schicken noch immer ihre schönsten Strahlen und Sandmann steht da wieder im Watteschnee, dieses geheimnisvolle Lächeln im Gesicht. Thomas hat schon die Münzen für den Parkautomaten in der Hand und will gerade vorbei gehen, als der Schlafrockmann ihm plötzlich zuzwinkert, und wieder und noch einmal. Es kam ihm sogar so vor, als hätte dabei die rote Zipfelmütze gewackelt und der sympathische Schelm noch ein wenig breiter gelächelt.
     "Du bist ja hartnäckig, Sandmann. Meinst du wirklich? Okay, du hast mich überzeugt. Weg mit den trüben Gedanken. Ja, ja, ich gehe schon zurück. Mit dem Polarnebeltraum werde ich mir einen gemütlichen Abend machen und erfahren, wie für einen Gestrandeten aus einem bitterkalten Winter ein neues Leben wird."

Bild und Text:  ©Renate Hupfeld

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